Feministische Netzpolitik

UNGLEICHHEIT UND DISKRIMINIERUNG IM DIGITALEN RAUM

Feministische Netzpolitik: Hintergrund für die politische Bildungsarbeit

Intersektionale feministische Netzpolitik übt Kritik an bestehenden Ungleichheitsverhältnissen im digitalen Raum, der stets eng verschränkt ist mit der analogen Lebenswelt. Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduzieren sich in diesen Räumen in einer Endlosschleife. Um diese aufzubrechen, gilt es, sie aufzuzeigen, zu analysieren und zu verstehen. Der erste Schritt liegt also immer in der Sensibilisierung dafür, wo und wie diskriminierende Strukturen bestehen. Ein Bewusstsein für Diskriminierung und ihre Folgen erlaubt uns, Privilegien zu reflektieren und unsere Handlungsmacht einzusetzen, um diese Strukturen abzubauen und durch neue progressive sowie gleichberechtigte Systeme zu ersetzen.

Im Folgenden skizzierte Beispiele wie digitale Gewalt und Hatespeech auf sozialen Plattformen zeigen die Bedeutsamkeit eines feministischen netzpolitischen Ansatzes auf und ermöglichen darüber hinaus, das Thema praktisch und lebensnah zu vermitteln. Auch der Ausblick auf intelligente Systeme (vgl. Schwerpunktthema Künstliche Intelligenz) schafft mannigfaltige, spannende und gut nachvollziehbare Ansatzpunkte, um sich dem Thema anzunähern.

Zur Entstehung feministischer Netzpolitik

Nur kurz weilte die optimistische Vision eines allen gleichermaßen zugänglichen Internets. Spätestens seit den 2000er Jahren wurde zunehmend deutlich, dass der sogenannte Digital Divide gekommen ist, um zu bleiben, und dass soziale sowie ökonomische Machtverhältnisse auch digital wirkmächtig geblieben sind.[1] Seit bald 25 Jahren zeigt sich in dieser sogenannten digitalen Kluft (vgl. Schwerpunktthema Digital Divide) somit ein erhebliches Maß sozialer Ungleichheit, sich manifestierend in den längst bekannten Diskriminierungskategorien von Geschlecht, Kultur und Ethnie, Alter, Be_hinderung, Einkommen und Zugang zu Bildung.

Darüber hinaus spiegeln sich patriarchale Herrschaftsstrukturen im digitalen Raum genauso wider, wie sie in der Gesellschaft vorkommen. Eine grundlegende Forderung feministischer (Netz-)Politik ist deshalb Zugang. Zugang ist aber längst nicht mehr allein von materiellen Ressourcen abhängig, sondern wird zunehmend eine Frage der erworbenen Fähigkeiten, die sich wiederum auf die Art der Nutzung des Mediums Internet und den so entstehenden Ertrag im Sinne eines gewinnbringenden Einsatzes desselben für den persönlichen Werdegang auswirken.[2]

Feministischer Netzpolitik geht es im Wesentlichen um vier große Themenbereiche: den Zugang zum Internet, den Zugang zu Inhalten, das Urheberrecht und den Datenschutz. Digitale Öffentlichkeit wird mittlerweile als fünfter großer Bereich verhandelt. Jeder dieser Bereiche verlangt eine intersektionale feministische Perspektive, also eine Blickrichtung, die die Verschränkung und das Überlappen von Diskriminierungsformen aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe im Zusammenhang der neuen Technologien analysiert. Erst wenn wir verstehen, wie sich die um Machtzuwachs bemühten Zugriffe von Wirtschaft und Staat gestalten und wie sich alltägliche Diskriminierungsstrukturen nicht nur erneuern, sondern verändern oder auch verstärken, lassen sich Strategien entwickeln, die zu deren Abbau beitragen.[3]

Zugangschancen und Teilhabemöglichkeiten, Chancen auf Bildung und Beteiligung sind innerhalb unserer Gesellschaft ungleich verteilt – darauf machen feministische und antirassistische Bewegungen schon lange aufmerksam. Feministische Netzpolitik übersetzt deshalb feministische Forderungen der Umverteilung bzw. des Zugangs, der Anerkennung und der Repräsentation in den netzpolitischen Dialog. Dieser teilt sich auf in eine Politik für das Netz und eine Politik mit dem Netz. Während bei einer Politik mit dem Netz dieses als Instrument genutzt wird, geht es bei einer Politik für das Netz um strukturelle Fragen und Politiken. Eine intersektionale feministische Politik für das Netz kümmert sich mithin um strukturelle und physische Fragen sowie die damit in Zusammenhang stehenden Vergeschlechtlichungen und die darauf einwirkenden emanzipativen Politiken. Genau hier also findet sich die Schnittstelle, an der eine intersektionale feministische Perspektive ansetzt.

Ökonomisch mächtige Unternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple, Alibaba oder Facebook gestalten die Oberfläche und Infrastruktur des Internets. Mehrheitlich weiße cis-Männer[4] prägen so Logiken, Funktionen und Strukturen des digitalen Raums. Frauen, Transpersonen, nicht-binäre Personen, die LGBTIQA+-Community, Personen der BIPoC-Community, be_hinderte Menschen oder anders marginalisierte Gruppen fehlen an den entscheidenden Stellen als Entscheider_innen und Entwickler_innen.

Digitale Öffentlichkeit

Das Internet erweitert den öffentlichen Raum um den Faktor Digitalisierung. Diese digitale Öffentlichkeit wird aber nicht von allen Nutzer_innen gleich erfahren. So stellte die Harvard-Professorin Latanya Sweeney fest, dass Google-Suchergebnisse rassistisch verzerrt sind. Sucht man nach Namen, die einer Schwarzen Person zugeschrieben werden, zeigt Google Werbung an, welche die Personen des gesuchten Namens mit der Begehung einer Straftat in Verbindung bringt[5] – oder anders gesagt: Googles Algorithmen gehen davon aus, dass Schwarze Menschen Straftäter_innen seien. Gibt man „Schönheit“ bei Googles Bildersuche ein, erhält man fast nur Bilder von Frauen, die zudem mehrheitlich weiß sind. Auch Sprachübersetzungsprogramme wie deepL können sich von dem Bias nicht freimachen: Ein (im Englischen) genderneutral formulierter Satz „the doctor and the nurse“ wird in der deutschen Übersetzung zu „der Arzt und die Krankenschwester“.

 

Christine Olderdissen, Projektleiterin Team Genderleicht, Journalistinnenbund e.V.

Audio-Aufnahme im Rahmen des Barcamp Wenn KI, dann feministisch (2019).

Während der Beschränkungen in der Covid-19-Pandemie haben wir deutlich gesehen, dass der Zugang zum Internet als Instrument der Teilhabe und Daseinsvorsorge eine Grundvoraussetzung ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gerade mit Blick in die Bildungslandschaft sowie auf das Thema Chancengleichheit und digitale Souveränität sind hier aber noch große Lücken zu schließen. Neben dem Zugang zum Internet hinsichtlich Breitbandanschluss sowie Hard- und Software-Ausstattung spielt vor allem die Media Literacy oder Medienkompetenz eine entscheidende Rolle dabei, wie Menschen das Internet nutzen – und noch immer entscheidet auch darüber vielfach der sozioökonomische Hintergrund.

„Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass jene, die sich bereits in einer privilegierten gesellschaftlichen Position befinden, in einem höheren Ausmaß von der Verfügbarkeit des neuen Mediums profitieren. Das heißt, es tritt jeweils das Muster sich selbst verstärkender Ungleichheiten auf.“[6]

Schaut man mit einem intersektionalen feministischen Fokus auf das Thema Zugang zum Internet sowie Nutzung desselben, wird schnell deutlich, dass disaggregierte Daten kaum auffindbar sind. Internetzugang und -nutzung in Deutschland lassen sich zahlenmäßig einzig in relativ breiten Kategorien auswerten: So finden sich klassische Gliederungen nach der binären Geschlechterzuschreibung, nach Alter, Wohnort, Bildungsstand und Einkommen.[7] Aus der deutschen Geschichte heraus sowie mit Blick auf den Datenschutz werden kleinteiligere Daten, die zum Beispiel in der Verschränkung von Geschlecht und Ethnie besonders vulnerable Gruppen im Kontext Digitalisierung erfassen könnten, nicht erhoben. Auch wenn dieses Vorgehen historisch gut begründbar ist, heißt es doch, dass potenzielle Diskriminierungskategorien und Ausschlusssysteme nur schwer sichtbar gemacht werden können. Um zum Beispiel Rassismuserfahrungen analog wie digital sichtbar zu machen, reicht die Kategorie „Migrationshintergrund“ schlicht nicht aus.[8] Schaut man dagegen ins internationale Feld, wird schnell deutlich, dass Diskriminierungssysteme intersektional verschränkt, digital nicht nur tradiert, sondern zum Teil sogar verstärkt werden.

Digitale Gewalt

So, wie Technologie nie neutral ist, sind auch Erfahrungen im Internet nicht für alle gleich. Der dort entstandene öffentliche Raum ist für Frauen, BIPoC und LGBTIQA+-Personen weitaus gefährlicher als für andere Gruppen. Sich überlappende Formen der Diskriminierung, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Trans_- und Homofeindlichkeit oder Fat shaming prägen diesen Komplex. Unter digitaler Gewalt versteht der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) den

„Oberbegriff für Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet“.[9]

Digitale Gewalt ist jedoch nicht nur ein Phänomen des öffentlichen Diskurses – vielmehr reicht es bis weit in den Bereich des Internet of Things, wo Frauen auch privat von Überwachungs-Apps heimlich ausgespäht und getrackt werden.[10] Überwachung und Kontrolle sind seit jeher patriarchale Instrumente eines Systems sozialer Unterdrückung – und sozialer Ausgrenzung.[11] Wie im Bereich der analogen häuslichen Gewalt fehlen gerade in diesem digitalen privaten Bereich evidente Zahlen, um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und eine anhängende gesellschaftliche Debatte überhaupt erst möglich zu machen.

Digitale Gewalt und Hatespeech aus Sicht feministischer Netzpolitik

Unter digitale Gewalt fällt der Komplex Revenge Porn, das heißt die Veröffentlichung privat geglaubter Nacktbilder,[12] ebenso wie Doxing, was die Zusammenstellung und Verbreitung von Informationen über eine Person bezeichnet.[13] Es geht mithin um digitale Mittel, die gezielt eingesetzt werden, um marginalisierte Personen(-gruppen) aus der Öffentlichkeit herauszudrängen und im Privaten zu belästigen. Der bff hält fest:

„Digitale Gewalt funktioniert nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘, sie stellt meist eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken dar.“[14]

Eine Form von digitaler Gewalt ist Hatespeech (Hassrede im Netz). Sie kann alle Menschen treffen, aber sie trifft nicht alle gleichermaßen. Männer sind oft Beleidigungen ausgesetzt, während Frauen meist von sexualisierten Gewaltandrohungen betroffen sind.[15] Intersektional betrachtet wird schnell deutlich, dass sexist Hatespeech Frauen unterschiedlich stark betrifft, dabei aber vor allem in ihrer Unterschiedlichkeit. So sind zum Beispiel Schwarze Frauen viel häufiger von Hatespeech auf Twitter betroffen als weiße Frauen, das zeigte eine Untersuchung von Amnesty International.[16] Ständige Bedrohung online führt zu Rückzugsmechanismen oder Silencing – das ist empirisch belegt[17] und schließt digital wie analog Betroffene nicht nur aus diskursiven Räumen aus, sondern hindert sie auch daran, ihre Meinungsfreiheit auszuüben, und konterkariert damit unser Verständnis von Demokratie.

Emanzipatorisches Potenzial im Kontext von feministischer Netzpolitik

Umso wichtiger ist es, die Themen digitale Gewalt und Hatespeech sichtbar zu machen und ihnen entgegenzutreten – ebenso wie allen anderen gesellschaftlichen Gewaltstrukturen und Ausschlusssystemen. Eine der Hauptaufgaben feministischer Netzpolitik besteht darüber hinaus im Antreiben politischer und juristischer Diskurse. Feministische Hashtag-Aktivismen spielen hier eine große Rolle, weil sie – wie etwa bei #aufschrei, #metoo, #whyididntreport oder #blacklivesmatter – auch in einer breiten, nicht-digitalen Öffentlichkeit wahrgenommen werden (vgl. Schwerpunktthema Online-Aktivismus). Diese Aktivismen stehen in der Tradition feministischer Praktiken der Sensibilisierung für Fragen von Ungleichheit und Diskriminierung: Berichte von sexueller und rassistisch motivierter Gewalt zwingen dem digitalen Raum durch die öffentliche Erzählung der eigenen Erlebnisse ihre offenkundige Realität auf und schaffen sich so ihre rechtmäßige Sichtbarkeit; zudem werden hegemoniale Wissenshierarchien infrage gestellt.

 

Helen von Schwichow und Katrin Fritsch von Motif - Institute for Digital Culture

Audio-Aufnahme im Rahmen des Barcamp Wenn KI, dann feministisch (2019).

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Weiterführende Literaturhinweise zu diesem Thema finden Sie im Service-Bereich.

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Quellen

[1] Ganz, Kathrin: Feministische Netzpolitik – Perspektiven und Handlungsfelder (Studie im Auftrag des GWI (2012)), Berlin 2013 [eingesehen am 14.10.2020].

[2] Siehe auch van Dijk, Jan: The Digital Divide, Cambridge 2020.

[3] Francesca Schmidt: Ziele und Wege feministischer Netzpolitik [eingesehen am 30.10.2020].

[4] Mehr zur Verteilung der Geschlechter in der IT-Industrie bei Gierlinger, Marisa: Wenn die Blacklist zur Blocklist wird, in: sueddeutsche.de, 18.10.2020 [eingesehen am 14.10.2020]. Bei Google etwa sind nur knapp 14 Prozent der Techniker_innen weiblich, nur gut zwei Prozent aller technischen Mitarbeiter_innen sind schwarz. Siehe Google-Mitarbeiter_innen-Statistik [eingesehen am 14.10.2020].

[5] Emerging Technology from the arXiv: Racism is Poisoning Online Ad Delivery, Says Harvard Professor, in: MIT Technology Review, 04.02.2013 [eingesehen am 16.10.2020].

[6] Zillien, Nicole: Digitale Spaltung – Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Internet, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 14.11.2013 [eingesehen am 14.10.2020].

[7] Gern mal eine eigene Recherche bei z. B. Statista versuchen!

[8] Eine spannende Initiative zur Erweiterung des Blickwinkels ist der Afrozensus, ein Interview mit der Projektleitung kann man hier nachlesen: „Wie geht es uns eigentlich?“. Paul Dziedzic im Interview mit Teresa Ellis Bremberger zbd Joshua Kwesi, in: analyse & kritik, 15.06.2020 [eingesehen am 14.10.2020].

[9] bff 2020, Digitale Gewalt [eingesehen am 16.10.2020].

[10] Vgl. Roth, Anne: Satlking, Spy Apps, Doxing: Digitale Gewalt gegen Frauen, Talk beim CCC Congress, Dezember 2018 sowie Dies.: Was tun gegen Digitale Gewalt gegen Frauen, Talk beim CCC Camp, August 2019, URL: https://media.ccc.de/v/Camp2019-10346-was_tun_gegen_digitale_gewalt_gegen_frauen#t=159 [beide eingesehen am 16.20.2020].

[11] Siehe z. B. Shephard, Nicole: What is sexual surveillance and why does it matter?, 2017, URL: https://www.genderit.org/feminist-talk/what-sexual-surveillance-and-why-does-it-matter [eingesehen am 14.10.2020].

[12] Vgl. Hohenstein, Sarah: Der Schutz vor der Herstellung und Verbreitung von Nackt- und Intimaufnahmen, Baden-Baden 2020, S. 140 ff.; siehe auch McGlynn, Clare et al.: Beyond „Revenge Porn“: The Continuum of Image-Based Sexual Abuse, in: Feminist Legal Studies, Jg. 25 (2017), H. 1, S. 25–47.

[13] Siehe Douglas, David M.: Doxing: a conceptual analysis, in: Ethics and Information Technology, H. 3/2016, S. 199–210.

[14] bff 2020, Digitale Gewalt [eingesehen am 26.10.2020].

[15] Siehe No Hate Speech: Was ist eigentlich Hate Speech? [eingesehen am 16.10.2020].

[16] „In the case of online violence and abuse, women of colour, religious or ethnic minority women, lesbian, bisexual, transgender or intersex (LBTI) women, women with disabilities, or non-binary individuals who do not conform to traditional gender norms of male and female, will often experience abuse that targets them in a unique or compounded way“, in: Amnesty International: Online Violence against Women, 2018, Kap. 2 [eingesehen am 16.10.2020].

[17] Siehe Geschke, Daniel et al.: Hass im Netz – Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie, Jena 2019, S. 28 [PDF, eingesehen am 14.10.2020].